Samstag, 26. Dezember 2015

26. Dezember 2015

Immer noch Weihnachten. Ich vermisse den Schnee, der eigentlich um diese Jahreszeit die Landschaft winterlich einkleiden soll.

Am Donnerstag besuchten wir eine Vorstellung in Frankfurt im Tigerpalast.
http://www.tigerpalast.de/

Natürlich gab es vorher für uns ein Essen im dazugehörenden 2 Sterne Restaurant. Wir machen das immer so: Wer Geburtstag hat, der lädt den anderen ein. Das ist in jedem Jahr eines unserer Geburtstagshighlight. Also Tigerpalast, mit Geschenk. Wir hatte verabredet, daß wir ein Wichtelgeschenk dabei haben. Nun bin ich im Besitz einer Wichtel Fallstasche. Das ist eine kleine zusammenfaltbare Tasche, die man dabei haben sollte, falls beim Einkaufen noch eine Tasche benötigt wird. Sehr praktisch das Ganze.

Das wichtigste Geschenk an Weihnachten ist immer der bunte Teller.

Foto: eki
Am späten Abend gab es die Weihnachtsgeschenke. Alles war hübsch aufgebaut und wir haben Schere, Stein, Papier gespielt, um die Reihenfolge auszuknobeln, wer von uns mit Päckchen auspacken dran ist. Ich hab das Spiel ziemlich oft gewonnen und sah als erste die schöne Bescherung.

Und dann war da noch das begehrte Paket meiner Großcousine Janine aus Californien. Ihre Großmutter und mein Großvater waren Geschwister. Mein Großvater Martin hatte noch sechs Geschwister. Seine Schwester Charlotte und drei seiner Brüder wanderten um 1900 in die USA aus.

Als Kind wußte ich von Großvaters Bruder Erich, zu dem meine Mutter Briefkontakt hielt. Aus Amerika trafen die geheimnisvollen, fremd und gleichzeitig unwiderstehlich duftenden Pakete meiner frühen Kindheit ein. Da kamen Süßigkeiten zum Vorschein, wunderbare Bilderbücher, die dreidimensionale Landschaften und Häuser entstehen ließen, klappte man die einzelnen Seite auf. Eines Tages lag, in zartes Seidenpapier eingeschlagen, ein hellblaues Kleid in einem der Pakete. Dieses Kleid wurde das begehrteste Kleidungsstück meiner Kindheit.

Janine und ich, wir kennen uns seit dem Jahr 2012. Wir richteten, unabhängig von einander, einen Familienstamm auf einer Pattform im Internet zur Ahnenforschung ein.
www.ancestry.de

Über diese Ahnenforschungsseite bekamen wir beide unseren Kontakt. Als ich die Seite mit meinen Einträgen bei "Ancestry" freischaltete, bekam ich sofort die Möglichkeit mich bei ihr zu melden.
 "I still cannot believe it, am I dreaming?"
Das war, was sie schreib und das war, was ich fühlte.
Vor zwei Jahren haben wir sie, ihre Familie, ihren Bruder und Freunde von ihr in Californien besucht. Jetzt bringt der Postbote wieder Pakete aus Amerika, wie in meiner Kinderzeit.

Über das Kleid gibt es eine Kurzgeschichte von mir:

Das Kleid
Innerhalb der letzten halben Stunde ist das Licht gekommen. Hinter leichten Nebelschwaden kriecht es über den Dächern der Häuser hervor, um durch die Fenster zu sickern. Milchig weißes Licht, das in ihr Zimmer dringt. Es breitet sich schwerfällig aus, bis in die Ecken. Draußen ist es jetzt heller, als im Zimmer.
Sie sieht hinaus. Raureif auf der Grasfläche im Park. Sieht eine Taube, die an ihrem Fenster vorbeifliegt. Ein goldener Lichtfleck, wie von einem Leuchtturm, eine Markierung auf der Kirchturmspitze.
Das rote Kleid hängt an der Tür ihres Kleiderschrankes. Das wird sie heute Abend tragen. Das Kleid aus New York. Roter Samt, zu einer Corsage gearbeitet. Mit Spaghettiträgern über den Schultern, endet es kurz im weiten Rock über dem Knie. Vorn laufen schwarz gekreuzte Seidenbänder bis zur Hüfte hinunter, um in kleinen Schleifen zu enden.
Sie läßt es über ihren nackten Körper gleiten. Spürt die glatte Innenfläche des Samtes weich auf ihrer Haut. Sie dreht sich vor dem Spiegel in der Diele, in dem sie ganz zu sehen ist. Läßt den Stoff geschmeidig um die Hüften gleiten. Die Schultern nach hinten gedrückt, das Kinn leicht angehoben. Ein Bein vor das andere gestellt, den linken Arm leicht angewinkelt. Sie beobachtet sich selbst, probiert den Sitz des Kleides aus. Hinter den eingeätzten Palmen auf der Spiegeloberfläche erkennt sie sich. Dreht sich schneller und schneller. Die matt schimmernden Pflanzen im Spiegel bewegen sich mit, bis Rot in helles Blau übergeht.

Ein weiter, weißer Batistkragen flog um ihren Hals, als sie sich drehte. Auf zartem Untergrund waren kleine Blütenreigen aufgestickt. Vorsichtig fuhr ihr Finger darüber. Schloß sie die Augen, fühlte sie die einzelnen Blüten, die Blätter und Ranken, die die Verbindung zwischen dem Blumendekor bildeten noch deutlicher. Sie beugte sich nach vorn, wirbelte auf dem Absatz herum, dem Rock so viel Schwung verleihend, daß er um ihre Beine flog. Hellblau und Weiß, das waren seit kurzem ihre Lieblingsfarben.
"Zieh das Kleid aus, du machst es nur noch schmutzig! Das sollst du morgen anziehen und es soll sauber sein."
Mutters Stimme riß sie aus den Gedanken.
Sie öffnet die Augen. Das rote Kleid schmiegt leicht sich an, läßt ihren schlanken Körper erkennen. Heute Abend, alle werden sie darin sehen und sie wird sich schön fühlen und erotisch.
Vorsichtig schlüpfte sie wieder heraus. Nahm den Bügel, den die Mutter auf das Bett gelegt hatte und hängte das Kleid darüber. Sie fühlte den Baumwollstoff, zart und leicht, wie die Wolken am Himmel. Preßte ihn gegen ihr Gesicht. Atmete den Geruch des Stoffes. Ein Kleid von solch heller, blauer Farbe, wie ihn der Morgenhimmel im Sommer haben konnte. Morgen durfte sie es zum ersten Mal tragen.
"Wenn es warm genug ist", hatte die Mutter gesagt.
"Dann darfst du es anziehen."
Es würde warm genug sein für das blaue Kleid und für die weißen Kniestrümpfe, die sie dazu tragen wollte. Dann würde sie die Prinzessin sein aus einem Märchenbuch. Sie würde nicht rennen an diesem Tag, nur gehen. Nicht hastig sein wie der Wirbelwind, sondern geduldig und wohlerzogen. Alle Blicke würden sich auf sie richten, wenn sie ins Zimmer kam. Das Kleid sie umgeben wie ein kostbarer Besitz. Sie würde wohlgefällig nicken und die ihr dargebrachten Huldigungen ruhig entgegen nehmen. Die ausgestreckten Hände ergreifen und alle um sie herum willkommen heißen.

Der Nebel ist jetzt hochgezogen. Die Kirchturmspitze hebt sich dunkel gegen den Himmel ab. Läßt ihren goldenen Punkt an seiner höchsten Spitze strahlen. Sie hängt das Kleid zurück an den Kleiderschrank. Bis heute Abend ist noch ein wenig Zeit. Sie zieht den Mantel über, beeilt sich auf dem Weg ins Büro. Bis Mittag hat sie den größten Teil ihrer Arbeit geschafft. So bleibt noch ein bißchen Zeit zum Träumen. Von Wolkenkratzern, vom Central-Park und den Straßen in Greenwich Village. Das Kleid spielt darin heute die Hauptrolle. Sie hat es eingekauft an einem Sonntag, dem Letzten, den sie in New York verbringt, dann ist ihr Urlaub zu Ende. Anfangs zögert sie, es zu kaufen. Ist es nicht zu gewagt? Jetzt muß sie über sich lachen, an ihrem Schreibtisch, zum Fenster hinaussehend und sich zurück erinnernd, wie sie in der engen Kabine steht und das Kleid überprobiert. Sie hat nicht die Absicht, es zu kaufen. Hat es zum Spaß anprobiert. Will sehen, ob sie sich darin gefällt. Ein Kleid von solch auffälliger Farbe und Machart ist sie nicht gewohnt zu tragen. Der Leichtsinn des Augenblicks kitzelt sie in der Seele.
Das soll sie sein? Niemals!
"Na klar nimmst du es", die Stimmen der Freundinnen geben den Ausschlag.
Viele Wochen war es her, daß der Briefträger ein Paket brachte. Suracuse, New York, stand auf dem Absender. Gleich unter dem braunen Kartondeckel lag es. Geschmeidig glitt es beim Herausnehmen über das rosa Seidenpapier. Ein Kleid mit weit schwingendem Rock, einem Gürtel, um es in der Taille festzuhalten und diesem wunderbaren Kragen. Kurze Ärmel mit weißen Aufschlägen aus dem gleichen durchsichtigen Material. Ein kleiner Reißverschluß an der Seite um bequem hineinschlüpfen zu können.
Sie war früh aufgestanden und leise ins Wohnzimmer geschlichen, während die anderen noch schliefen und es im Haus ganz still war. Eine Blaumeise flog auf das Dach des Vogelhäuschens. Der Vater brachte es so in den Ästen der niedrigen Birken an, daß sie es vom  Fenster aus sehen konnte. Sie schaute der Blaumeise zu, das neue Kleid zur Probe über das Nachthemd gezogen. Noch war es zu früh, um damit auf die Straße gehen zu können. Sie setzte sich auf den Kinderstuhl unter das Fenster und wartete, daß die Stunden vergingen.
Zu Hause angekommen geht sie als erstes unter die Dusche.
'Den Tag abspülen', wie sie es nennt.
Rot, zu ihren roten Haaren. Sie lacht leise, steckt das Haar mit einem Kämmchen fest, macht sich zurecht.
Sie ruft sich ein Taxi, läuft die Treppe hinunter und steigt in den wartenden Wagen. Die Stadt hat jetzt die Lichter eingeschaltet. Ein leichter Wind treibt feinen Nieselregen gegen die Windschutzscheibe. Auf dem feuchten Asphalt glänzen die Lichter vervielfacht. Das Zischen der Räder klingt wie das Geräusch auf einer Rutschbahn.

Sie stand ganz oben auf der Leiter. Von hier aus sah sie über den Spielplatz. Am Ende der Rutsche stand die Mutter. Sie rief ihr zu, sie solle auf das neue Kleid acht geben. Sie solle jetzt rutschen. Vorsichtig hob sie den Rock in die Höhe, damit sie nicht auf dem empfindlichen Stoff saß. Sie stieß sich von der Kante ab und sauste mit einem Geräusch in die Tiefe, das ihr noch lange in den Ohren klang. Sie spürte, wie sie etwas am Rock festhielt, das sich in einem Riß verbreiterte und hinter ihr her sauste. Es wurde länger und länger und endete erst, als die Mutter sie auffing, mit einem letzten Ruck am Rock.
Sie spürte warme Arme, die sie umfingen, eine Hand, die die ihre hielt.

"Bleiben Sie ruhig liegen, wir sind gleich da."
Sie blickt in Richtung der Stimme. Irgendwo heult die Sirene eines Krankenwagens. Ihr Blick sucht in diesem Raum nach Anhaltspunkten. Sie sieht Fenster an den weißen Seitenwänden, schaut auf den Boden. Ein roter Samtfetzen rutscht in der Kurve, unter der Bahre auf der sie liegt hindurch, auf die andere Seite hinüber.


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